Oh Mann. Nun sitze ich seit zwei Stunden ununterbrochen im Stau. Ich war bei einer „Mama“ von TanCraft zu Besuch und bin jetzt auf dem Heimweg. Aber ungelogen seit zwei Stunden geht im Verkehr überhaupt nichts voran. Aufgeregt zapple ich mit meinen Beinen, trommle mit meinen Händen auf den Oberschenkeln und beobachte aufmerksam die Menschen, die am Bus vorbeigehen. Neben mir sitzt ein älterer Mann, der mich nach einer Weile anspricht. Eigentlich will ich nur heim und mich jetzt nicht noch mit anderen Leuten unterhalten – der soll mich doch einfach in Ruhe lassen und der Bus soll endlich losfahren! Aber er fragt immer mehr und aus Höflichkeit wage ich es nicht, nicht darauf zu antworten. Erst will er wissen, woher ich komme, dann wie viele Geschwister ich habe, ob ich an Gott glaube, warum ich Swahili spreche, wie alt ich bin, was ich arbeite – er hört einfach nicht auf. Das lenkt mich nicht wirklich ab, im Gegenteil! Und dann fragt er mich, warum ich denn so aufgeregt bin. Ich antworte ihm, dass ich eigentlich nur heim wolle, dass ich den Verkehr in Dar anstrengend finde, dass der Tag schon sehr anstrengend war … Schließlich frage ich ihn, ob ihn das alles denn nicht auch nervt, er antwortet nur „nein“ und muss lachen.
Das war vor ein paar Monaten.
In dieser Situation war mir das letztendlich dann ziemlich egal – ich dachte nicht mehr drüber nach. Bis ich das nächste Mal im Stau stand. Warum sagte er einfach nein und lachte? Gefällt ihm der Stau etwa? Wahrscheinlich nicht. Ich habe bis heute keine Ahnung, warum er „Nein“ gesagt hat. Aber trotzdem versuchte ich, an diesem Abend mit einer anderen Einstellung an die Sache zu gehen.
„Paul, ist doch egal, wann du daheim ankommst, es gibt Wichtigeres im Leben, du hast doch heute Abend eh nichts mehr vor.“ Und das klappte! Plötzlich fühlte ich mich wohl im Stau, war viel ruhiger und war sogar noch als ich zuhause ankam super drauf. Und das alles nur durch meine Gedanken, verrückt!
Als ich vor ein paar Wochen mit Freunden im Kino war, fiel mir die Situation wieder ein, obwohl sie schon Monate her war. Warum? Wir waren in der Disney-Neuverfilmung des „Dschungelbuchs“ und mit dem Bär „Balu“ begegnete mir im Film ein Held meiner Kindheit. Und seine Lebenseinstellung, seine Philosophie erinnerte mich an mein „Gedankenspiel“ im Bus und den entspannten älteren Mann, der mich nur angelacht hat.
Es gibt Momente, in denen fühle ich mich wie ein Balu: relaxed, glücklich, optimistisch – einfach als wäre mein ganzer Körper gefüllt mit guter Laune. Diese Momente möchte ich am liebsten anhalten oder zumindest öfter erleben. Diese Momente sind erfüllend, sie sind geradezu essenziell für mich.
Hier, bei uns zuhause in Ubungo kaufe ich eigentlich immer nur ein, was ich konkret brauche. Direkt, zehn Meter von unserem Eingangstor entfernt, gibt es drei kleine Läden, drei „Dukas“ (heißt Einkaufsladen übersetzt). Dort bekomme ich Gemüse, Obst, Getränke, Hygieneartikel, Lebensmittel, Haushaltswaren und was man sonst Alltägliches braucht. Da ich das alles direkt vor meiner Haustüre habe, kaufe ich nie viel ein. Wenn ich etwas kochen will oder Durst habe, gehe ich kurz zur Duka. Auf Vorrat kaufen Leah (meine Mitbewohnerin) und ich fast gar nichts. Ganz plump zeigt das mir, wie wenig wirklich notwendig wäre. In meinem Zuhause in Deutschland haben wir einen Vorratskeller, der meist gut gefüllt mit irgendwelchen Lebensmitteln ist, nicht selten wird das Eine oder Andere mal schlecht oder ist nicht mehr genießbar. An meinem hier erlernten Einkaufsverhalten sehe ich: es funktioniert auch so!
Klar gibt es mal einen Tag, an dem es keine Nudeln (oder Anderes nicht) mehr gibt und da wäre ich froh, ich hätte welche auf Vorrat gekauft – aber dann gibt’s halt Reis, Pfannkuchen, Toastbrot oder ich gehe zum Chipsy-Mann. Satt und zufrieden bin ich dann trotzdem und ich habe den „Wert“ von z. B. Nudeln ganz anders kennengelernt – ich habe die Nudeln dadurch geradezu schätzen gelernt.
Anderes Beispiel zu meinen Lebensumständen hier im Vergleich mit Zuhause: Letztes Jahr hatte ich daheim ein zwar sehr altes, aber eigenes Auto. Ich konnte jederzeit dort hinfahren, wo ich hin wollte. Ein Auto bedeutete für mich eine zuvor nie so dagewesene Freiheit. Auf öffentliche Verkehrsmittel oder andere Alternativen habe ich in dieser Zeit meist verzichtet – aus Bequemlichkeit, bei Kurzstrecken vor allem aus zeitlichen Gründen. Ist auch nervig in Zussdorf, wenn man seinen Tag anhand des Busplanes planen muss.
Ein paar Faktoren haben hier bei mir zu einem Umdenken geführt: Wie nervig wäre es doch mit einem Auto in Dar es Salaam!
In den Morgenstunden und im Feierabendverkehr staut es auf den Hauptstrecken und den Kreuzungen meistens, mit dem Bajaji (TukTuk) zu fahren oder auch manchmal einfach zu Fuß zu gehen, ist weit einfacher. Und ob ich mit einem Auto oder mit einem Dalla Dalla (Kleinbus) fahre – Stau bleibt Stau! Außerhalb der Hauptverkehrszeiten ist es außerdem richtig entspannt, mit einem Dalla Dalla durch die Stadt zu fahren, es gibt zwar keinen Busplan und somit auch keine Abfahrtszeiten, der „Streckenplan“ ist am Anfang echt schwer zu verstehen und hin und wieder steige ich auch in ein total überfülltes Dalla Dalla eingequetscht zwischen vielen Menschen ein. Aber sehr selten muss ich lange auf einen Bus warten, der in meine gewünschte Richtung fährt. Das Bussystem habe ich inzwischen verinnerlicht – nachdem ich anfangs des Öfteren in das falsche Dalla gestiegen bin, habe ich gelernt nachzufragen. Außerdem lernt man die Stadt eh viel besser kennen, wenn man immer mal wieder einfach in ein zufälliges Dalla Dalla steigt und eine Strecke fährt, die man nie davor gefahren ist. Überfüllte Dalla Dallas gehören für mich inzwischen genauso dazu wie lange Stauwartezeiten. Daran habe ich mich gewöhnt.
(Anmerkung: Natürlich freue ich mich trotzdem über einen Sitzplatz im Bus und über eine freie Strecke!)
Mit der Zeit habe ich mich immer öfter gefragt, was ich in Deutschland vermissen werde, wenn ich wieder daheim bin. Ich glaube, so wirklich kann ich das gar nicht absehen und muss es einfach auf mich zukommen lassen. Eine Sache fällt mir allerdings immer wieder auf: Wenn ich auf der Straße unterwegs bin, egal wohin und meist auch egal zu welcher Tageszeit, werde ich von den Menschen gegrüßt und grüße auch selber die Menschen. Man nimmt sich kurz Zeit für einander, nicht selten bleibe ich sogar stehen und unterhalte mich kurz mit den Menschen. Der Stellenwert der Begrüßung spiegelt sich auch in der Sprache wieder. So gibt es viele verschiedene Begrüßungsformen bzw. -rituale, die sich auch immer noch weiterentwickeln.
Im Februar/März hatte ich ein ziemliches Tief, irgendwie fühlte ich mich nicht gut, irgendwas stimmte nicht. Da kam vieles zusammen. Einen der Hauptgründe finde ich rückblickend sehr interessant. Damals hatte ich das Gefühl, noch keine richtigen tansanischen Freunde gefunden zu haben. Zu oberflächlich waren mir die Freundschaften, die ich bis dahin geschlossen hatte. Gleichzeitig hatte ich das Gefühl, dass niemand meiner Mitfreiwilligen mich richtig verstand – irgendwas fehlte. Ich erkannte, wie wichtig soziale Kontakte für mich sind, wie lebensnotwendig sie für mich sind!
Ein bisschen rege ich mich über den Paul von damals auf. Auf der einen Seite habe ich meine Freundschaften hier zu wenig wertgeschätzt, sowohl zu Tansaniern als auch zu meinen Mitfreiwilligen hin. Inzwischen bin ich mir sicher, dass nicht wenige der Freundschaften auch nach meinem Jahr hier noch erhalten bleiben. In der Zeit hier habe ich einige Menschen echt lieb gewonnen und ich habe gelernt, ihnen zu vertrauen. Auf der anderen Seite habe ich gemerkt, dass ich damals der passive Teil der Freundschaft war, ich sah meine Freunde in der Bringschuld. Ich habe inzwischen gelernt, dass es gut tut, Initiative zu ergreifen – auch regelmäßig die aktive Rolle in einer Freundschaft zu ergreifen. Und ich habe jetzt während des Reflektierens einmal mehr gemerkt, wie wichtig mir meine Freunde sind, wie gut mir soziale Kontakte tun.
Noch eine kleine Anekdote zum Schluss: Vor drei Wochen war meine Familie zu Besuch. Nach Kilimanjaro, Dar es Salaam, Safari im Mikumi Nationalpark und ganz vielen Erlebnissen verließen wir das Festland Richtung Zanzibar. In Zanzibar Stadt (manchen von euch vermutlich eher bekannt als Stone Town) erkundeten wir gemeinsam ein bisschen die Stadt – einer meiner Lieblingsorte ist ein schöner Markt im Herzen von Zanzibar Stadt. Zuvor war ich sicherlich schon fünf Mal in dieser Markthalle mit den unterschiedlichsten Leuten. Als wir dort eintraten, gingen Mama, Katja und Lara ohne große Worte ziemlich schnell wieder hinaus. Warum? Sie meinten wegen des Geruchs und sie hatten auch schon die frisch geschlachteten Tiere entdeckt. In einem großen Teil der länglichen Halle werden frisch geschlachtete Tiere verkauft, nicht nur das Fleisch, man kann auch Felle/Häute, die Beine, den Kopf oder beispielsweise auch Ziegenhörner kaufen. Also wirklich das ganze Tier! Und obwohl alle drei Fleisch essen, ekelte es sie, das zu sehen und zu riechen. Ich hatte vollstes Verständnis dafür, in Deutschland fehlte mir in der Regel der direkte Bezug zum Tier. Wenn ich beispielsweise ein vakumiertes Stück Steak kaufte oder einen Wurstsalat aß, dachte ich nicht wirklich darüber nach, was ich da vor mir hatte. Nur der Geschmack/Genuss spielte eine Rolle, die Zubereitung oder wie zart das Fleisch ist. Woher kommt es, wie wurde es geschlachtet? Oder wie viel Fleisch esse ich eigentlich? Diese Erfahrung hat mir gezeigt, dass Fleisch nicht lebensnotwenig für mich ist, wie wichtig mir aber meine eigene Moralvorstellung geworden ist. Ich will mir kein Tabu setzen, will nicht Vegetarier werden, das stelle ich mir als zu drastischen Schritt für mich vor. Dazu mag ich den Geschmack und viele Fleischgerichte zu gerne und ich sehe Tiere schlachten auch nicht unbedingt als unmoralisch an. Aber ich will Fleisch viel bewusster konsumieren, mich mehr mit der Herkunft des Fleisches beschäftigen und auch meinen Fleischkonsum minimieren. An dieser Stelle auch meine Hochachtung an alle Vegetarier und Veganer – auch und vor allem für eure konsequente Einstellung!
Seit nun mehr als neun Monaten lebe und arbeite ich in Tansania. Was das alles so bedeutet, war mir am Anfang gar nicht so klar. Auf einen Schlag haben sich mein Alltag, mein Leben, einige Gewohnheiten und auch andere, ganz simple Sachen verändert. Und nach und nach fällt mir auf, was sich alles so verändert hat. Dinge, die mir doch früher so wichtig waren, sind plötzlich nichtig oder unbedeutend. Und wiederum spielen andere Themen eine viel größere Rolle. Ich schärfe den Blick für die Dinge, die mir wirklich wichtig sind. Langsam, nach und nach kristallisiert sich einiges wirklich Lebensnotwendige für mich heraus.
An dieser Stelle komme ich auf Balu zurück. Ich bewundere seine Zielstrebigkeit und seinen Fokus für die für ihn wichtigen Dinge. In seinem Song „The Bare Nessecities“* (zu Deutsch: Das Lebensnotwendigste) besingt er seine Lebenseinstellung „Look for the simple Bare Nessecities, but the Bare Nessecities will come to you“ („Schau nach dem einfach Lebensnotwendigsten, aber es wird zu dir kommen“). Und das alles mit einer absolut positiven Lebenseinstellung „Forget about your worries and stress/Just try to relax“ (Vergiss deine Sorgen und Ängste/Versuch dich einfach zu entspannen.)
Und genau deshalb ist das hier meine ganz eigene Balu-Philosophie. Die Suche nach meinem Lebensnotwendigsten. Mein Versuch, meinen Fokus auf das Lebensnotwendigste zu schärfen – so wie es Balu macht.
Und zuletzt noch eine tolle Strophe aus der deutschen Übersetzung: Was soll ich woanders, wo‘s mir nicht gefällt. Ich will nicht fort von hier, von dieser Welt!
*Die deutsche Übersetzung „Probiers mal mit Gemütlichkeit“ ist euch wahrscheinlich eher bekannt.